Santiago de Chile, Donnerstag, 26. Januar 2017, 23:37 Uhr

Weitere Eindrücke von den Tagen in der Araucania:

Bei den Ausflügen, die P. Juan mit mir und seinen beiden Brüdern diese Tage gemacht hat, sind wir immer wieder auf Spuren des Kapuziner-Paters und -Bischofs Francisco Valdés Subercaseaux (1908 – 1982) gestoßen. Er war der erste chilenische Kapuziner. Aus einer der höchsten aristokratischen Familien Chiles stammend, wurde er ein ganz einfacher Bettelmönch und wirkte zunächst in Pucón als Pfarrer, dann in Osorno als Bischof. Zu den Kapuzinern ist er in Rom gekommen, weil sein Vater dort chilenischer Botschafter am Vatikan war. Eingetreten ist er bei den bayerischen Kapuzinern und studierte unter anderem auch in Eichstätt (!!). Er war musisch und künstlerisch hoch gebildet. Aus seiner Familie stammten einige bedeutende und in Chile bekannten Maler, Literaten, Musiker, aber auch Politiker und Kirchenmänner.

Pancho, wie ihn die Leute noch heute gern nennen, ging einen anderen Weg, nicht den Weg seiner Verwandten. Er wählte das extrem einfache und arme Leben. Und er wollte ganz nahe an den Menschen sein. Die Pfarrei in Pucón hat praktisch er gegründet und aufgebaut. Auch die Klosterschwestern von „Santa Clara“ holte er nach Pucón. Die Missionierung sollte gleichzeitig auch von der Anbetung des Herrn begleitet und getragen werden. Für unzählige Kirchen malte oder schnitzte er Kreuze oder Altarbilder. Seine Bilder erinnern an den Nazoräner-Stil des ausgehenden 19. und anbrechenden 20. Jahrhunderts. Die Kreuze sind der Kreuz-Ikone von San Damiano sehr ähnlich. Es existieren unzählige Kreuze, die er im Laufe der Jahre anfertigte. In zahlreichen Kirchen und Kapellen sind sie zu finden. Auch die Kirchenmusik lag ihm sehr am Herzen. Den Gregorianischen Choral liebte er außerordentlich. Er war aber auch der erste in Chile, der als Pfarrer und später dann auch als Bischof für seine Gemeinden Bücher mit geeigneten Lieder für die Gottesdienste zusammen stellte. Noch vor dem Konzil sammelte und schrieb er Lieder in spanischer Sprache, um die Liturgie zu bereichern.

Es ist maßgeblich ihm zu verdanken, dass der Konflikt zwischen Argentinien und Chile im Jahr 1978 nicht zu einem Krieg führte. Durch seine Kontakte zu den höchsten politischen Kreisen und sein direktes Intervenieren sowohl bei Augusto Pinochet, dem chilenischen Präsidenten, als auch bei Jorge Rafael Videla, dem argentinischen, erreichte er, dass Papst Paul VI. Kardinal Antonio Samoré als Vermittler entsandte. Durch zahlreiche Verhandlungen zwischen Santiago und Buenos Aires bewirkte dieser schließlich, dass die beiden Militärdiktaturen ihre Konflikte beilegten und es nicht zum Ausbruch des drohenden Krieges kam.

Santiago de Chile, Donnerstag, 26. Januar 2017, 12:22 Uhr

Mit dem Bus bin ich heute Nacht von Temuco nach Santiago zurückgefahren. Er hatte eine halbe Stunde Verspätung, so dass wir erst um halb 12 losfuhren und um halb acht dann in den Busbahnhof an der Metro-Station „Universidad de Santiago“ einfuhren. Ich habe fast die ganze Zeit über geschlafen – im Gegensatz zur Busfahrt von Sonntag auf Montag. Nicht einmal ein Kapitel konnte ich in meinem Buch lesen, so müde war ich – und ich hätte doch noch so gern die letzten 40 Seiten des interessanten Buchs von Joachim Meyerhoff „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“ fertig gelesen.

Hier noch ein paar Eindrücke von den drei Tagen in der Araucania:

Den Kapuziner P. Juan Bauer kenne ich schon aus meiner Kindheit. Er stammt aus dem kleinen Dorf „Böhmfeld“ im Landkreis Eichstätt. Sein Bruder, der „Luggi“, ist der größte Bauer in meinem Heimatdorf Tauberfeld und sein Hof steht gleich gegenüber von der Kirche mitten im Dorf. Alle zwei, drei Jahre, wenn P. Juan auf Heimaturlaub war, besuchte er auch die Familie vom Luggi. Dabei feierte er dann auch oft eine Messe in unserer Kirche, bei der wir Kinder ministrierten. Anschließend hielt er manchmal noch einen Lichtbilder-Vortrag über die Mission der bayerischen Kapuziner in Chile. Als Jugendpfarrer in Schelldorf lernte ich dann auch seine große Verwandtschaft in Böhmfeld kennen, seine Geschwister, Neffen und Nichten. Und als ich dann in Ingolstadt Pfarrer von St. Augustin und verantwortlich für die spanisch sprechende Gemeinde war, trafen wir uns auch da ein paar mal.

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts sind die bayerischen Kapuziner in der Aurakanie Chiles tätig. Es haben sich dort auch viele Deutsche angesiedelt. Das war aber weniger der Grund für das Kommen der bayerischen Kapuziner. Vielmehr sollten sie die Gegend „missionieren“ und eine Kirchenstruktur aufbauen. Von Seiten der chilenischen Regierung – die die Mission der Kapuziner stark unterstützte – wollte man vor allem das Volk der Mapuche-Indianer inkulturieren und in die chilenische Gesellschaft eingliedern. Damit sollte das Land noch mehr zum Süden hin geöffnet werden.

P. Juan war 12 Jahre lang Pfarrer in Pucón – viele Jahre natürlich auch in ein paar anderen Pfarreien. Die kleine Stadt Pucón mit seinen ca. 15.000 Einwohnern ist wunderschön gelegen an dem See „Villarrica“. In den letzten Jahren hat sich das Städtchen zu einem der quirligsten Tourismusmagnete Chiles entwickelt. In unmittelbarer Nähe zum See erhebt sich der mächtige Vulkan „Villarrica“. Seine 2.840 Meter hohe Spitze ist das ganze Jahr über mit Schnee bedeckt. Aus dem Krater dringt ständig weißer Rauch. Das letzte mal ist er in den siebziger Jahren ausgebrochen – glaube ich. Der „kleine Süden“, wie man diese Region zwischen Temuco und der Isla de Chiloé nennt, ist voll von Seen. Sie bildet zwischen den Anden und der Pazifikküste einen herrlichen Landstreifen, der mit seiner saftig grünen und bergigen Landschaft an die Schweiz erinnert. Die bunten Holzblockhütten auf dem Land, in denen vor allem die Mapuche leben, geben der Gegend einen fast europäischen, rustikalen Charakter.

Von Pucón aus durfte ich in den vergangenen Tagen mit den drei Bauer-Brüdern schöne Ausflüge in die umliegenden Naturparks machen. Am Montag fuhren wir an den wunderschönen kleinen See „Huife“. Als wir gegen 12 Uhr ankamen, waren wir noch die ersten. Erst mit der Zeit kamen noch andere Erholungssuchende dazu. Auf der Wiese breiteten wir unser Picknick aus: Brot, Salami, Käse, Oliven, Bier, Rotwein, Wasser und eine Riesenmelone. Das klare Wasser war herrlich zum Baden. Am Ufer lag ein Paddelboot, mit dem ich auch mal hinausfuhr. Beim Lesen in der Sonne holte ich mir einen leichten Sonnenbrand.

P. Juan kannte die Familie, die die Wiese mit Grillplatz vor dem See verwaltet. Fast überall kannte P. Juan die Leute, und die Leute kannten ihn, so hatten wir immer sehr schnell Kontakt mit den Einheimischen. Er erzählte uns auch immer interessante Geschichten über Land und Leute, was uns die Gegend noch mehr erschloss! Auf unserem Rückweg nach Pucón machten wir am Montagabend noch Halt bei einem Mapuche-Markt. Die Besitzer – wieder alte Bekannte von P. Juan – luden uns zu einem frisch gebackenem Brot und einem leckeren Traubensaft ein.

Pucón, Dienstag, 24. Januar 2017, 10:25 Uhr

Inzwischen bin ich bei den Kapuzinern in Pucón. Vor dem Frühstück fuhr ich heute mit P. Juan zur Feier der Messe mit den „capuchinas“. Knapp 20 Franziskaner-Schwestern leben am Rand der Stadt zu Füssen des Vulcan „Villarrica“ in dem beschaulichen Kloster „Santa Clara“. Ich schätze, mehr als die Hälfte der Schwestern sind unter 40 Jahre. Fast alle sind aus der Gegend, einige auch Mapuche-Frauen. Mein erster Eindruck war, das wären vielleicht so furchtbar fromme, zum Kitsch neigende Klosterfrauen, wie es sie überall auf der Welt gibt. In der Messfeier hat sich dieser Eindruck aber völlig relativiert. Die Schwestern scheinen mir sehr bodenständig zu sein. Sie haben wunderschön gesungen, die Lieder mit einer Menge von Instrumenten begleitet: Gitarren, Geige, Flöten, Charrango, Mandoline, Perkussionsinstrumente etc. Die Liturgie war äußerst schlicht. Gleichzeitig tief und echt. Und vor allem gemeinschaftlich. Die Gemeinschaft prägte eine starke Verbundenheit. Die Feier war auch sehr persönlich, nicht abgehoben oder künstlich. Für diesen natürlichen Stil der ganzen Liturgiefeier war vor allem auch P. Juan verantwortlich.

Santiago de Chile, Sonntag, 22. Januar 2017, 17:42 Uhr

Sitze am Busbahnhof „Universidad de Santiago“ und warte auf meinen Bus in den Süden, nach Osorno. Das heißt, ich werde nur bis Freire fahren und hoffe, dass mich der Busfahrer dort aussteigen lässt. Die freundliche Dame am Schalter konnte mir die Karte leider nicht mehr umtauschen, weil ich eine halbe Stunde zu spät kam und sie jetzt nicht mehr in das Computerprogramm rein kann. P. Juan Bauer, mit dem ich mich in Osorno (etwa 900 km südlich von Santiago) treffen wollte, rief mich heute Früh an und sagte, er müsse wegen einer Beerdigung nach Pucón, etwa 200 km nördlich von Osorno. Deshalb müssen wir unsere geplante Tour kurzfristig umdisponieren. Wir werden nicht von Osorno aus in den Süden nach Puerto Montt Puertovaras fahren, sondern wir werden uns in der Gegend von Pucón aufhalten. Mal schauen, ob der Busfahrer mitmacht. Der Bus geht um halb neun. Habe also noch etwas Zeit. Deshalb bestellte ich mir auch zuerst mal ein kühles Bier.

Die Tage in Chile vergehen wie im Flug. Und es passiert so wahnsinnig viel. Ich komme gar nicht dazu, alles zu verarbeiten, von wegen hier im Blog festzuhalten.

Heute – Sonntag – feierten wir Messe in Cristo vive. Ein wunderschöner Gottesdienst. Aufgrund der zahlreichen Begegnungen in den letzten Tagen kenne ich ja schon so viele Leute. Und vor allem auch dadurch, dass ich Karoline und der Fundación Cristo vive schon seit 23 Jahren verbunden bin. In all den Jahren hatte ich sehr oft mit Karoline Kontakt und häufig gehört, was in Chile, Peru und Bolivien durch die Fundación Cristo vive inzwischen alles entstanden ist. In der Messe heute sah ich viele Gesichter wieder, die mir von der vergangenen Woche her vertraut waren: die morgendliche Rund, die sich täglich zum Bibelteilen und Frühstück im Haus von Karoline trifft, Leute, die ich auf der Straße kennengelernt habe, und natürlich Franzi mit einigen Freiwilligen.

Das ist es auch, was eine schöne Messfeier ausmacht, dass man miteinander verbunden ist und eine Gemeinschaft bildet. Wir haben unseren Glauben wirklich miteinander gefeiert und so konnten wir auch das Schwere der Menschen mittragen. Eine Familie, zum Beispiel, hat am Mittwoch ihren Vater verloren. Am Freitag haben wir im Leichenhaus neben der Kirche eine Aussegnung gehalten und heute am Ende der Messe wurde der Familie an der Osterkerze eine Kerze entzündet und für den Verstorbenen gebetet. Mein Eindruck ist, dass der ganze Gottesdienst von vielen aktiv mitgetragen wird: eine große Musikgruppe sorgte für die Begleitung der Lieder, jemand moderierte und kommentierte einzelne Teile, die Ansagen am Schluss waren sehr praktisch …

Die ganze Messfeier hat mir sehr gut getan. Ich musste als Priester gar nicht viel machen, brauchte mich nur in die Hände der ganzen Gemeinschaft begeben. Und so ging mir auch die Predigt einfach von den Lippen.

Santiago de Chile, Samstag, 21. Januar 2017, 02:00 Uhr

Jetzt muss ich endlich wieder mal mehr Musik machen. „La otra casa“ hieß das Lokal, in dem ich mit Franzi heute war. Es ist in dem wunderschönen Italia-Viertel. Wir wollten eigentlich in ein Jazzlokal, aber da gab es keinen Platz mehr. Dann haben wir dieses Lokal gesehen. Ein kleiner Raum, vielleicht Platz für 30 bis maximal 40 Personen. Kleine rustikale Holztische, einfache Baststühle, eine kleine Theke und die Wände voll geklebt mit Plakaten bekannter und unbekannter lateinamerikanischen Liedermacher. Wir sind die ersten Gäste, um 22 Uhr. Um 11 werden noch vier Musiker kubanische Musik machen, mit Gitarren, Congas und so, sagt man uns. Es würde sich also rentieren. Also bleiben wir. Und bestellen uns Bier und Empanadas. Bei der Hitze kann man gar nichts anderes trinken, und was Leckeres als Empanadas gibt es zu so einer Gelegenheit nicht.

Um halb 12 kommen die Musiker dann endlich. Die meisten der Gäste – das Lokal hat sich inzwischen völlig gefüllt – kennen die vier. Sie beginnen mit einem „Happy birthday“ für die junge Frau in der ersten Reihe, die am Tisch mit einer Traube von ca. 10 Personen sitzt. Und dann folgen eineinhalb Stunden kubanische Salsa, Rumba und Bolero vom Feinsten. Die meisten Stücke sind bekannt und werden auch von vielen im Saal mitgesungen. „Buena vista social club“ ist im Vergleich zu diesen vier jungen Musikern bedeutungslos.

Unweigerlich muss ich zurückdenken an „Los Latin Buam“. Eine sagenhaft Band, in der vor ziemlich genau 25 Jahren ein in München lebender Bolivianer, ein in Schweinfurt lebender Peruaner und drei bei Eichstätt lebende Bayern lateinamerikanisch-, englisch- und bayrischsprachige Musik machten. Leider haben sich die Konzerte aber – soweit ich mich noch erinnern kann – auf ganze zwei (!) beschränkt. Nichts desto trotz, haben aber diese Gigs und die paar Proben den Musikern unendlich viel Spaß gemacht. Eigentlich ist es doch an der Zeit, diese Band wieder zusammen zu rufen. Vielleicht so wie die legendären „Blues Brothers“? Für einen guten Zweck. Für „Cristo vive“?

Santiago de Chile, Samstag, 21. Januar 2017, 01:22 Uhr

Der Tag beginnt mit dem Evangelium. Täglich fangen die Schwestern um 8 Uhr den Tag mit dem „evangelio cotidiano“, dem Lesen und Austausch über das Tagesevangelium an. Danach gibt’s Frühstück. Es ist eine winzige Hütte. Im Erdgeschoss ein „Wohn- und Esszimmer“ mit maximal vier auf drei Meter, eine winzige Küche, eine Meditationsecke und ein WC mit Dusche. Im Stock drüber sind drei kleine Schlafzimmer für Karoline, Maruja und Teresa. Zum Bibelteilen kommen 6 bis 8 Personen. Alle haben sie um den kleinen Tisch Platz. Es ist die einfachste Form eines Wortgottesdienstes: Ein gemeinsames Lied, jemand betet spontan ein Gebet vor, wir lesen das Tagesevangelium, nach einer kurzen Stille tauschen wir uns darüber aus, und dann schließen wir wieder mit einem Lied ab. Meistens sagt jeder ein paar Gedanken zu dem Bibeltext. Keine Diskussion. Meistens ist es ganz was Konkretes und Persönliches. Es wird nicht theologisiert. Vielmehr ganz praktisch sich ausgetauscht. Ich bin jedesmal richtig erstaunt – und auch etwas beschämt – wie „einfach“ das Wort Gottes und seine Botschaft doch sein können. Nicht so kompliziert, wie meine theologischen Gedanken. Am Mittwoch, an meinem ersten Morgen, feierten wir eine Messe. Mittwochs kommt immer der befreundete Pfarrer P. José. Eine Tischmesse. Einfachst. Sehr intensiv und tief.

Inzwischen habe ich schon alles möglich erlebt. Heute nach dem Frühstück wurde ich gebeten in der Leichenhalle neben der Kirche mit Angehörigen vor dem Sarg ihres verstorbenen Vaters zu beten. Beten heißt aber für mich als Priester aber immer auch, Zeugnis vom Evangelium zu geben. Die Leute warten auf ein tröstendes, aufbauendes und stärkendes Wort.

Inzwischen kennen mich schon einige im Viertel. Sie grüßen mich freundlich und kommen vielleicht sogar auf mich zu. „El padre alemán de España.“ Aber was noch entscheidender ist: „Un amigo de Karoline.“ Sie wird im ganzen Viertel regelrecht wie eine Heilige verehrt. Es ist ja auch gewaltig und unvorstellbar, was sie – mit ihren Mitschwestern und MitarbeiterInnen – alles aufgebaut hat. Entscheidender aber, denke ich, ist, die Art, mit der sie den Menschen begegnet. Jeden, egal wen, nimmt sie förmlich in die Arme und drückt ihn aus vollstem Herzen. Uneingeschränkt schenkt sie sich und ihre ganze Liebe jedem, der ihr begegnet, ohne Unterschied.